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Aslý Erdoðan: Faser für Faser aus menschlichem Leiden ge

Wie fühlt sich Erfolg an, der haarscharf am Abgrund vorbei führt? Aslý Erdoðan kann davon erzählenn. Das Jahr 2008 beginnt für die Istanbuler Autorin viel versprechend. Sie bereitet sich auf ihre Lesereise quer durch Deutschland vor. Ihr Roman Die Stadt mit der roten Pelerine liegt seit dem Frühjahr in der Übersetzung vor. Im Herbst soll die Schriftstellerin zur Buchmesse nach Frankfurt fahren, um beim Gastlandauftritt der Türkei dabei zu sein. Neue internationale Erfolge kündigen sich an, Auftritte, Auszeichnungen, Anerkennungen. Doch dann kommt der 1. Mai 2008, Demonstrationen, Ausschreitungen, und plötzlich zeigt sich der Abgrund: Istanbul ist am internationalen Maifeiertag wie belagert von Polizei, Hundertschaften in blauer Uniform mit Schutzschild und Schlagstock haben Beyoðlu, die Innenstadt von Istanbul, bereits am Vormittag abgeriegelt, um die Demonstranten vom Marsch auf den zentralen Taksim—Platz abzuhalten. Straßenkämpfe brechen aus, Wasserwerfer fahren vor, Krankenwagen preschen unter Sirenengeheul durch die Stadt. Und mittendrin ist Aslý Erdoðan.

Als sie wenige Wochen später, im Juni, nach Deutschland kommt, muss sie noch immer eine Halskrause tragen. Die Polizei, berichtet die Autorin, habe aus einer Entfernung von fünf Metern einen Wasserstrahl auf sie gerichtet, der sie durch die Gegend schleuderte. „Ich versteckte mich hinter einem Auto, dann kam das Tränengas. Im Fernsehen wurde das nicht gezeigt. Die Demokratie der AKP ist für mich unglaubwürdig. Diese Partei will gar keine Freiheit.“ Die Autorin macht um ihre Verletzung kein besonderes Aufheben. Doch unüberhörbar liegt Resignation in ihrer Stimme. Die Lage beunruhigt sie, wieder einmal drängt sich die Politik vor die Literatur: „Einiges hatte sich in Richtung Demokratie entwickelt. Nun aber ist vieles wieder vom Kampf um die Macht beherrscht. Auf der einen Seite steht die Regierungspartei AKP, auf der anderen Seite der konservative Staat. In diesem großen Kampf nutzt jede Seite die Demokratie nur als Maske.“

Und doch, rückblickend betrachtet ist 2008 für Aslý Erdoðan ein erfolgreiches Jahr gewesen. Ihr düsterer, bedrückend schöner Roman Die Stadt mit der roten Pelerine über eine Türkin in Rio de Janeiro, der ihr in der Heimat zum Durchbruch verholfen hat, kommt in Deutschland an. Elke Heidenreich überschlägt sich in ihrer Fernsehsendung Lesen! vor Begeisterung über das Buch, was nicht eben schlecht ist für den Verkauf. Der Abgrund freilich findet sich auch in diesem Werk, und seine Entstehungsgeschichte führt sogar haarscharf daran vorbei; es beginnt 1994, Hals über Kopf. Aslý Erdoðan muss ihre Geburtsstadt Istanbul verlassen; die Autorin hatte sich mit ihrer kompromisslosen Kritik an der diskriminierenden Behandlung von Schwarzen öffentlich exponiert. Das einzige Land, in dem sie als Türkin schnell genug Aufnahme finden kann, ist Brasilien. So landet sie in Rio. Dort, nicht im inspirierenden Istanbul, siedelt sie ihre Story an, in der es weniger ums pralle Leben als um den nackten Tod geht, weniger um Hingabe als um Verzweiflung, weniger um Lust als um Leid.

Aslý Erdoðan erzählt von einer verarmten, sich selbst entfremdeten Vagabundin, die, um die Isolation in der Millionenstadt zu bestehen, im Schreiben Rettung sucht. Diese Migrantin namens Özgür, deren Vorname im Türkischen so viel heißt wie ’frei’, irrt ziellos durch Rio. Sie weiß nicht, dass es der letzte Tag in ihrem Leben sein wird. Aber der Leser ahnt es schon bald. Die Autorin schickt uns mitten hinein in das Chaos dieser von Armut belagerten Stadt, und sie, die alle Fäden in der Hand hält, sieht voller Gelassenheit zu, wie wir Seite um Seite vom Sog der Geschichte verschlungen werden. Dabei erzählt sie von vielem zugleich. Sie schildert das Leben der Favelas, sie zerpflückt die Klischeebilder vom karnevalesken Alltag unterm Zuckerhut, sie philosophiert über das Wesen der Mulattin, des Candomblétanzes und des brasilianischen Körperkults. Sie gibt sich der atemberaubenden Schönheit des Orts hin. Aber sie ist nicht blind für seine Schattenseiten.

Immer wieder wird in dem Roman deutlich, wie wenig sich die politisch engagierte Autorin mit menschenverachtenden Zuständen ganz allgemein abfinden kann, gerade aber auch mit den Zuständen in dieser Stadt, in der die Reichen die Armen verachten, „dieses Geschmeiß, das ihnen die Aussicht verdirbt, die schöne Stadt zu einer Freiluftkloake, zum Krankenhaus und Konzentrationslager macht“. Ein Menschenleben in einem solchen Umfeld ist nicht viel wert. Özgür findet eine Tote am Straßenrand, doch niemanden schert die Leiche. Die Anklage freilich hüllt sich immer ins kunstvoll gewebte Gewand der Literatur. Nicht nur die Autorin schreibt: über Özgür. Auch Özgür schreibt in diesem Roman: über ihre Protagonistin mit dem Namen Ö. Beide, Aslý Erdoðan und ihre Heldin Özgür, lassen den Leser diesen Prozess schöpferischen Schreibens erleben, das sich verdichtet und ergänzt, das am Ende, im Tod, Realität und Fiktion auf bizarre Weise verschmilzt. Muss Özgür sterben, weil Ö. sterben wird? Oder stirbt Ö., weil Özgür gestorben ist? Und kommt sie selbst, die Schriftstellerin Aslý Erdoðan, mit dem Leben davon?

Auch die Schriftstellerin Erdoðan begann zu schreiben, um zu überleben. Aslý Erdoðan wurde 1967 in Istanbul geboren. Sie besuchte eine englischsprachige Schule. Sie liebte die Literatur, schrieb zunächst für sich selbst, dann publizierte sie einzelne Manuskripte und erhielt bereits 1990 für eine dieser Geschichten den angesehenen Yunus—Nadi—Preis. Nach Abschluss ihrer Schule studierte sie jedoch zunächst Physik, arbeitete von 1991 bis 1993 am Genfer Kernforschungszentrum CERN – ein Job, für den sich bis zu diesem Zeitpunkt noch niemand aus der Türkei qualifiziert hatte. Ihre Karriere war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Während sie forschte, erschienen 1991 erste Erzählungen von ihr aus den achtziger Jahren. Zur inneren Notwendigkeit wird ihr das Schreiben aber erst in Genf. Dort führt sie, wie sie in Interviews erläutert, ein regelrechtes Doppelleben. Tagsüber hält sie dem knallharten Leistungs— und Konkurrenzdruck in den Labors stand. Sie spielt das Spiel mit, erbringt Leistungen, vollendet Abschlüsse, steckt sich akademische Ziele. Nachts aber kompensiert sie die tägliche Selbstentfremdung. Sie schreibt. Wie zum Ausgleich entsteht in dieser Zeit der erste Roman, Der Muschelmann. 1996 bringt sie ihren Erzählband Der wundervolle Mandarin heraus. Zwei Jahre später folgt Die Stadt mit der roten Pelerine, ihr zweiter Roman. Rio markiert also den Wendepunkt in ihrem Leben – hin zur Literatur.

1996 kehrt Aslý Erdoðan nach zwei Jahren in Brasilien zurück in die Türkei. Mit der Physik ist sie fertig. Stattdessen schlägt sie sich mit unterschiedlichen Jobs durch. Sie arbeitet als Programmiererin, Englischlehrerin, Tänzerin, sie übersetzt, verfasst Gedichte, Essays und kritische Kolumnen, insbesondere für die Tageszeitung Radikal, in der sie von 1998 bis 2000 heikle Themen aufgreift: Folter in Gefängnissen, Gewalt gegen Frauen, Diskriminierung von Schwarzen, Unterdrückung der Kurden. Eine Anthologie unter dem Titel Wann endet meine Reise (2000) bündelt ihre Kommentare. Dass diese Veröffentlichung weniger Interesse und Aufmerksamkeit auf sich zieht als ihre Literatur, stört sie. Nach dem Erscheinen der Die Stadt mit der roten Pelerine war sie zig Male interviewt worden. Doch als der Kolumnenband herauskommt, habe es nur eine einzige Anfrage gegeben, sagt sie. Sie zählt mit und bildet sich ihren eigenen Reim auf die deutliche Diskrepanz. Mit Themen, die wehtun, macht man sich nun mal nicht zum Liebling der Medien und der Öffentlichkeit.

Zurück aus Brasilien knüpft die Autorin, die bald nach Galata in Istanbul zieht, an ihr Engagement für die Menschenrechte an. Sie schreibt nicht nur, sie tut auch etwas im beharrlichen Kampf gegen die Ungerechtigkeiten vor der Haustür. Sie arbeitet mit Straßenkindern und mit Angehörigen von Gefangenen. Sie legt öffentlich Worte für inhaftierte Autoren ein. Und sie zählt zu den wenigen Autoren, die im Herbst 2005 zum turbulenten Auftakt des Prozesses gegen den Literaten Orhan Pamuk kommen, als dieser wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt wird, um ihre Solidarität zu beweisen: Da sitzen Yaþar Kemal, der Grandseigneur der türkischen Literatur, zwei weitere Autoren – und sie. „So also sieht die Unterstützung in Wahrheit aus“, urteilt sie in einem Gespräch rückblickend, um dann einen knappen Kommentar hinterher zu schleudern: „beschämend“. Auch bei diesem öffentlichen Auftritt 2008 nutzt sie die Gelegenheit, den berühmt—berüchtigten Artikel 301 im türkischen Strafgesetzbuch zu kritisieren, der kurz zuvor trotz vieler Proteste lediglich geringfügig reformiert worden ist: „Wenn die Regierung mehr Demokratie wollte, dann hätte sie den Artikel abgeschafft. Doch dieser Paragraph ist nicht der einzige, der die Meinungsfreiheit einschränkt. Es gibt viele Damoklesschwerter, die über uns hängen. Man weiß nie, wann eines herabfällt.“

Aslý Erdoðans Engagement führt über Istanbul hinaus. Bald zählt sie zu den Mitbegründern des ersten Kulturzentrums in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakýr. „Die Türken müssen lernen, mit den Kurden zu sprechen, und die Kurden müssen lernen, mit den Türken zu sprechen“, sagt sie zur Begründung ihres Engagements, das sie Kraft kostet und ihr zugleich Kraft verleiht. „Im Kulturzentrum hat mich niemand gefragt: Bist du kurdisch oder türkisch? Gefragt wurde: Willst du ein Seminar geben? Das Publikum war gemischt. Nicht alle Kurden sind für die PKK. Ich habe in Diyarbakýr Frauen getroffen, die sich von der Angst gelöst und den Hass transzendiert haben. Solche Begegnungen helfen voran.“ Zugleich warnt sie davor, den Autoren und der Literatur eine zu große Wirkungskraft auf der Bühne der Politik zuzumessen. Schon damals sagt die Schriftstellerin: „Wir sind keine Entscheidungsgewalt in der Türkei.“ Ihre Worte klingen wie eine düstere, von Realismus durchdrungene Prophezeiung. „Wenn der Krieg ausbricht, ist es ohnedies vorbei, zumindest für eine Weile. Nichts ist für immer verloren, aber es wird Rückschläge geben. Wir werden wieder zwischen Türken und Kurden trennen.“

Auch aus solchen Begegnungen schöpft die Schriftstellerin, die ein feines, ja extrem empfindliches Gespür für die Vorgänge in der Türkei hat. Sie habe gelernt, Kunst aus dem Chaos und der Tragödie zu schaffen, stellt sie lapidar fest. Das Düstere in ihrer Literatur habe eben auch damit zu tun, dass diese ihre Wurzeln in dem düsteren Boden des Landes habe. Ihre Geschichten erzählen von Entwurzelung, Verlust und Exil. Die Reisen führen ins Innere, erkunden die Psyche, die verletzten Gefühle. Ihre Sprache ist komplex und von magischer, berauschender Schönheit. Für Übersetzer ist es eine Herausforderung, Aslý Erdoðans nuancenreiche Ausdruckskraft zu übertragen und auch ihre elaborierten Satzkonstruktionen für die deutsche Syntax mit Eleganz zu entwirren. Doch wenn es gelingt – wie im Wunderbaren Mandarin oder in der Stadt mit der roten Pelerine – , dann kommen kraftvoll—schöne, unverbrauchte Bilder zum Vorschein: Die Sonne geht unter, wie so oft in Rio de Janeiro, aber bei Aslý Erdoðan ist es ein schwarzer Samthandschuh, der den leuchtenden Rubin am Horizont ganz langsam bedeckt: „Die tropische Nacht, die sogar noch einen Diamanten schleift. Sie leckt den Körper wie eine feuchte Zunge…“. Die rote Pelerine dieser Stadt ist Faser für Faser aus menschlichem Leiden gewoben.

Wie viele Schriftsteller spürt auch Aslý Erdoðan die unsichtbare Kraft, die die eigenen Protagonisten entfalten. Die Charaktere können so stark werden, dass sie sich nicht nur selbst befreien, sondern anfangen, ihre eigenen Erfinder hinter sich her zu schleifen. So erging es ihr mit Özgür in der Stadt mit der roten Pelerine, und so ergeht es wiederum der schreibenden Özgür mit Ö., ihrer Hauptfigur. Wer will, kann Aslý Erdoðans kunstvoll konstruierten Roman auch als eine Parabel über das literarische Schreiben an sich lesen – und sich auf die Tricks und Täuschungen einlassen, auf das Spiel mit dem Namen beispielsweise: Özgür, lange Zeit ein Männervorname, nennen türkische Mütter seit den siebziger Jahren auch ihre Töchter. In der Originalfassung muss man eine ganze Weile lesen, bis sich das Rätsel um die Doppelgeschlechtlichkeit löst. Erst dann wird wirklich klar: Özgür ist eine Frau. Und Ö. wiederum steht für die Autorin für viele Bedeutungen zugleich: für ’ölüm’ (Tod), für ’öteki’ (der andere), für ’özne’ (Subjekt) und für die türkische Schreibweise von Eurydike – ebenfalls mit dem Anfangsbuchstaben Ö.

Natürlich wird eine Frau, die über Frauen schreibt, zumal wenn sie Türkin ist, mit der Frauenfrage konfrontiert. In diese Schublade lässt sich Aslý Erdoðan, deren Botschaften etwas Universales haben, nicht einsortieren. Leben und Sterben ist kein Frauenthema an sich, schon gar nicht für eine Autorin wie sie. Und auch die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, an denen sich die Schriftstellerin mit viel Lebenskraft abarbeitet, lassen sich nicht allein aus der Genderperspektive betrachten. So wie die brasilianische Story einer türkischen Heldin letztlich eine Geschichte aus den Zeiten von Migration und Globalisierung ist, also von universaler Bedeutung, so versteht sich auch die Autorin selbst: als eine Autorin, die die Zeichen der Zeit zu deuten sucht. Aber sie kennt die Realität. „Es ist schwer, Frau zu sein in der Türkei“, stellt sie fest. „Es ist auch schwer, Autor zu sein. Und es ist schwer, beides zugleich zu sein – doppelt schwer.“ Man gehört in jeder Hinsicht zu einer Minderheit. Aslý Erdoðan nimmt diese Herausforderung auf. „Da lernt man, mit dem eigenen Ego fertig zu werden.“

Es gibt Leute in der Türkei, die Aslý Erdoðan vorwerfen, nicht wirklich in der Tradition der türkischen Literatur zu schreiben. Doch Kultur verschmilzt viele Einflüsse, der Wandel ist das Wesen von Kultur an sich – und so schöpft die Schriftstellerin aus vielen Quellen, aus dem Mythenschatz der Antike, aus der Romantradition des 19. Jahrhunderts, aus der Literatur der Moderne, aber auch aus Philosophie, Psychologie – und Politik. Auch die Globalisierung mischt mit: dass eine türkische Schriftstellerin, geboren im wunderschönen Istanbul, nicht diese Stadt aller Städte am Bosporus zur Kulisse eines Romans wählt, sondern das ferne Rio – selbstverständlich ist das nicht. Von Brasilien aus betrachtet gehört die Türkei zur „nördlichen Hemisphäre“. Es ist alles eine Frage des Standpunkts. Aslý Erdoðan ergründet ihr Land aus der Nähe und aus der Distanz.



1.9.2009
ALMANYA
Sibylle Thelen


 

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