Ohne Geld in Rio
Was macht eine Tochter aus gu¬tem türkischem Haus, Informa¬tikerin und Physikerin mit zwei¬jährigem Praktikum bei Cern in Genf, in Rio de Janeiro? Eine Stadt, die einerseits als die schönste der Welt gilt, an¬dererseits von der Autorin als eine beschrie¬ben wird, deren 600 Hügel von unzähligen Favelas in Beschlag genommen werden und in der Hunderttausende Obdachlose wie verrostete Nägel, die man weggeworfen hat, in den Straßen verrotten. „Es ist der Ort, wo naive, wohlmeinende und großzügige Orga¬nisationen versuchen, ein ausgebeutetes, schlecht ernährtes Volk — vor wem? — zu schützen. Rio zwinkert nur teuflisch mit den Augen und belächelt sie. Die Stadt weiß, dass sie schnell aufgeben und, nachdem sie sich ein, zwei Punkte auf ihrem Gewissens¬konto gutgeschrieben haben, wieder zu¬rückkehren werden in ihre wie ein Uhrwerk funktionierende, langweilige, mit Freud und Leid geizende Erste Welt.”
Ist es das, was Özgür (özgür heißt so viel wie frei, unabhängig) in Rio festhält, nach¬dem sie die Universität, die sie gerufen hat, vérlásst und versucht, sich als Programmie¬rerin, Nachhilfelehrerin für Englisch und Tänzerin durchzuschlagen? Die Langeweile an der mit Freud und Leid geizenden Ersten Welt, in der ihr eine große Karriere als Phy¬sikerin offengestanden wäre? Oder doch die schmerzhafte Liebe zu einer Stadt, deren Geheimnis sie zuinnerst herausfordert?
Was die Daten angeht, gleicht Özgürs Bio¬grafíe der ihrer Autorin, der 1967 in Istanbul geborenen Asli Erdoðan, die Informatik und Phvsik ebenfalls aufgegeben hat und nach zurückgewiesen. Ihr Portugiesisch wird im¬mer besser, aber man scheint sie immer we— . niger zu verstehen. Die Liebesabenteuer, auf die sie sich einlässt, enden jeweils mit dem Verlassenwerden. Sie bleibt die Gringa, die Fremde, auch wenn sie mittlerweile ge—nauso mittellos ist wie die meisten Einhei¬mischen. Sie hungert, bis sich ihr Magen in Krämpfen windet, raucht eine Zigarette nach der andern, schnupft hin und wieder Kokain, das in den Favelas wie Brausepulver verkauft wird, leidet unter der Hitze, unter Nervenzusammenbrüchen und Asthmaan—fällen. Und ist dennoch nicht bereit, nach Istanbul zurückzukehren. Das Telefonge¬spräch mit der Mutter fügt sich in eine Rei¬he von Gründen für die Ablehnung. Die Mutter, eine wohlhabende Geschiedene, die daran denkt über Weihnachten mit Freun¬den nach St. Petersburg zu fahren und die sich in den Straßen herum wie ein entflohe¬ner Sträfling. Dann stürzte sie in das erst¬beste italienische Lokal und verschleuderte das ganze Geld für ein einziges Abendessen. Es gibt doch Unverzichtbareres als Tugen¬den: die Zitrone im Tee, die Sonntagszei¬tung oder italienischen Mozarella.” So steht es in Ö.s Romän, gleich darauf kommentiert Özgür: „Das war vielleicht das aufrichtigste Kapitel des Romans.” Özgür hat in Rio die Freiheit gewählt und ist in der Freiheit des Dschungels, der die Stadt noch immer um¬klammert hält, gelandet. Verarmt, verein¬samt, seelisch und körperlich herunterge—kommen, aber mit immer klarerem Blick auf die Not, die Verzweiflung, die Grausam¬keit, aber auch die Lust, die sie umgibt und der sie sich nicht entziehen kann.
Noch in einem früheren Stadium, als sie mit einer Universitätskollegin nachts durch.
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