Eine Türkin in Rio
Asli Erdogan erzählt den Untergang einer Frau in der Stadt mit der roten Pelerine
Die Stadt mit der roten Pelerine ist Rio de Janeiro, gesehen durch die Augen einer jungen Türkin, die dort
seit zwei Jahren einen Roman zu schreiben versucht. Die Stadt ist ein pulsierendes Wesen im blutfarbenen
Mantel, und gleichzeitig ist sie ein Reich der Verdammnis und des Todes. Der Aufenthalt an einem solchen
Ort wird zur täglichen Höllenfahrt, ein Abstieg in die Unterwelt. Ganz folgerecht ist der Mythos von Orpheus
allgegenwärtig und wird in häufigen Hinweisen, besonders in Zitaten von Orfeu Negro, dem berühmten
französisch—brasilianischen Film von 1959, heraufbeschworen. Die Erzählerin selbst, die wohl einiges mit
der Autorin Asli Erdogan gemeinsam hat, ist ein weiblicher Orpheus, sehr weißhäutig, was in dem Roman
eine Rolle spielt, da sie von den dunkleren Menschen um sie her absticht. Warum und wieso sie in dieser
Stadt gelandet ist, erfahren wie nicht, und warum sie sich nicht von ihr losreißen kann, weiß sie selbst
nicht. Doch nach und nach verfallen auch wir als Leser der Attraktion einer Mischung aus Lust und
Todessehnsucht, der das Wesentliche von Rio vereinigt.
Auszüge aus einem Roman, an dem die Erzählerin arbeitet, wechseln mit ihren eigenen Erlebnissen ab,
doch fließen Erzähltes und Erlebtes so sehr ineinander, dass man die beiden Ebenen oft nur vom Druckbild
her unterscheiden kann. (Der fiktionale Roman ist kursiv gedruckt!) Das ist natürlich volle Absicht und wird
auch unumwunden als solche erklärt. Die Erzählerin heißt Özgür, was so viel wie die Freie oder die
Unabhängige bedeutet, ihre Romanheldin wird mit dem Anfangsbuchstaben Ö bezeichnet, daher ein
Ego. Das erinnert an Kafka und seine diversen Ks. Ö, so schreibt Özgür, sei eine halb fiktive Özgür.
Özgür betont ihren Zweifel an der Fähigkeit der Sprache, die Wirklichkeit wiederzugeben und reiht sich
damit in postmoderne Überlegungen ein, doch auf anschaulichere Art, als das bei Theoretikern der Fall zu
sein pflegt: Leben und Schreiben stehen einander gegenüber wie zwei wetteifernde Bauchredner. Der eine
versucht ständig die Stimme des anderen zu übertönen.
Gleichzeitig lesen wir die scheinbar genaue Wiedergabe einer verrotteten Stadtlandschaft, bewundernswert
packend in diversen realistischen Details. Dabei ist das Chaos eines Innenlebens immer mitgedacht und
mitgeschrieben. In diesen Überschneidungen von Innen und Außen sowie den Schwankungen im
Realitätsbegriff liegt der Reiz und die Originalität dieses Buchs.
Özgür hat in ihren zwei Jahren in Rio de Janeiro Portugiesisch gelernt, aber sie bleibt die Gringa, die
Ausländerin aus dem Norden, die es in die Tropen verschlagen hat. Sie berichtet vom Zerfall ihres eigenen
Körpers, von der Übelkeit, der sie oft ausgesetzt ist, vom Hunger, den sie nicht stillen kann, weil sie sich so
leicht übergibt, von der Nikotinsucht — sie ist Kettenraucherin —, von den Drogen, mit denen sie mit dem
Leben fertig zu werden sucht und die sie nicht verträgt. Sie gibt sich mit Männern ab, die sie kaum kennt
oder die sie sitzen lassen; sie wird um den Gehalt ihrer Arbeit als Englischlehrerin geprellt, sie leidet unter
dem Klima und einem geizigen Vermieter, der ihre Wohnung vernachlässigt und keine Klimaanlage
installiert:. Sie ist ständig hungrig, aber angewidert von Speisen, ständig müde, aber fürchtet Albträume,
ständig dürstend, aber weiß nicht, wonach.
Die Rationalität meldet sich gelegentlich, in der Form von Telefonanrufen ihrer Mutter aus Istanbul, die die
Schüsse, die sie im Hintergrund hört, für die Feuerwerke des berühmten Karnevals von Rio hält. Die Mutter
will wissen, warum die Tochter nicht endlich nach Hause zurückkehrt. Darauf hat Özgür keine Antwort. Nur
das Schreiben ihres Romans bewahrt sie vorm Wahnsinn, meint sie. Aber worüber will sie schreiben? Ihr
Ziel: Die Stadt wie einen Schmetterling in ihren hohlen Händen einzufangen und in Worte zu bannen,
ohne sie zu töten. Diese Stadt ist der Ort, wo Tod und Lust verschmelzen, der Ort von Orpheus und
seiner Liebe.
Die berühmte Touristenstadt mit ihren teuren Hotels und geleckten Stränden existiert für Özgür nur am
Rande. Das Wesentliche sind die Favelas, jene eigenartigen Slums von Rio de Janeiro, die ihre eigene
Kultur und Musik entwickelt haben, trotz Armut, Drogenabhängigkeit, Kriminalität, Unterernährung, und
Gleichgültigkeit. Sie ist entsetzt von der Grausamkeit, die hier waltet und entzückt vom Lebensdrang, vom
Tanz, an dem sie teilnimmt, der Musik und den Festen der Favelas. Diese Musik, die dich an den
Schultern packt und dich ins Land der Euphorie schiebt, ist das Einzige, was von Orfeu geblieben ist.
Trotz allem Horror, den sie empfindet, kann sich Özgür dem Sog von Rio und seiner Gescheiterten nicht
entziehen und verliebt sich in seine perverse Schönheit. Sie lernt den Karneval verstehen, gerade weil sie in
seine bedrohliche Seite Einblick gewinnt. Ob diese Liebe sie das Leben kosten wird, steht am Ende weit
offen in einer ultimativen Verschmelzung und Verschiebung von Erzähltem und Erlebtem. Nach der letzten
Seite merkt man, wie gut Erdogan den Epigraph des Romans gewählt hat, ein Zitat von Celan: Du warst
mein Tod:/ Dich konnte ich halten, / während mir alles entfiel. Was der Autorin nicht entfiel, ist ihre
Fähigkeit einen abenteuerlichen Absturz darzustellen, wie ihn in der Belletristik sonst nur
heruntergekommene Männer erleben, doch ohne die Genderrollen zu verwechseln. Es ist deutlich eine
feminine Sensibilität, die hier zu Worte kommt. Nicht nur Orpheus sondern auch Persephone, die Königin
und Gefangene im Hades sprechen uns aus diesen Seiten an.
Der Roman ist in der Türkischen Bibliothek des verlags erschienen, nach der Originalausgabe von
1998. Die Schweizer präsentieren mit dieser Reihe Meilensteine der türkischen Literatur von 1900 bis in die
unmittelbare Gegenwart.
Asli Erdogan: Die Stadt mit der roten Pelerine.
A. d.u Türk. v. Angelika Gillitz—Acar und Angelika Hoch. sverlag, Zürich.
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