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Die Stadt mit der roten Pelerine

Özgür hat ihre gesicherte Zukunft gegen das Abenteuer eingetauscht: Die Studentin aus
Istanbul ist fluchtartig nach Rio de Janeiro gegangen, wo sie mittlerweile ziemlich abgestürzt ist.
Ermattet von der Hitze und vom täglichen Überlebenskampf — sie hält sich mit Sprachunterricht
mühsam über Wasser —, driftet sie mehr durch den Alltag als dass sie wirklich lebt. Permanent
denkt sie über den Tod nach, der in Rio allgegenwärtig ist und auch ihre Romanfigur Ö. sinniert
über die Vergänglichkeit des Lebens. Fast manisch schreibt Özgür an ihrem Roman ”Die Stadt
mit der roten Pelerine” und erzählt darin autobiographisch gespiegelt die Geschichte von Ö. in
Rio. Doch Ö. macht sich irgendwie selbstständig, und beide Geschichten sind so raffiniert
ineinander verwoben, dass nie ganz klar ist, wer hier letztlich über wen erzählt, Özgür über Ö.,
oder umgekehrt. Der eigentliche Roman (von Aslý Erdoðan) erzählt einen Tag in Özgürs Leben,
Ostersonntag: Sie beginnt ihn einsam und ausgehungert, zieht dann durch die Stadt, verbringt
ein paar glückliche Stunden bei einer Tanzgruppe und wird am Ende Opfer eines tödlichen
Überfalls.

Eine sehr philosophische Geschichte über das Leben und den Tod ist das: Wie sich diese
behütete Türkin in Rio verliert, während sie eigentlich auf der Suche ist, nach sich selbst, nach
ihrem vergessenen Körper, nach Liebe. Wie sie einerseits in der Samba—Metropole ihre
Weiblichkeit jenseits aller Rollenmodelle lebt und wie sie andererseits verwahrlost, weil sie sich
außer Kaffee, Koks und Zigaretten nichts mehr gönnt. Wie sie eigentlich im Gegensatz zu den
Abertausenden Obdachlosen und Elenden der Stadt privilegiert ist, sich aber hundeelend fühlt.
Das ist in bestechend intensive Bilder gekleidet; diese endlose Leere des einsamen, heißen
Ostersonntagmorgens, an dem es keinen gibt, außer ihr und einer Eidechse an der Wand, so
dass sie schließlich loszieht, nur um dann ziellos und hungrig durch Rio zu irren. ”Warum
kommst du nicht zurück?” fragt ihre Mutter, und das unterkühlte Telefonat lässt ahnen, warum
Özgür nicht an die Stadt am Bosporus zurückkehrt. Längst ist sie dem Sog Rios, jener Stadt am
”Januarfluss”, die ihre ”rote Pelerine” (gemeint ist hier der Umhang aus Blut und Gewalt) um
einen legt und ihn nicht mehr freigibt, verfallen wie eine Süchtige. Das ist grandios beschrieben.

”Die Stadt mit der roten Pelerine” aus dem Blickwinkel einer türkischen Aussteigerin betrachtet
ist der ultimative Rio—Roman. Die türkisch—brasilianische Spiegelung ist reizvoll, vor allem aber
besticht Erdoðans Buch durch seine Sprache, durch die eigenartige, soghafte Stimmung, die sie
erzeugt. Selten wurden Verwahrlosung und Elend dieser pulsierenden, sich selbst stilisierenden
und sich selbst betrügenden Metropole so intensiv beschrieben. ”Sie ziehen sich an wie
Gangsta—Rapper, spielen sich auf wie Hollywood—Ganoven und sterben wie die Fliegen”, heißt es
über die Slumbewohner, und solche Sätze finden sich viele im Roman. Özgürs Odyssee ist eine
faszinierende Mischung aus Reiseführer, innerem Monolog, Gesprächen, szenischen Wechseln,
Beobachtungen, Dokumentarpassagen, Theaterspiel und Kreuzweg in einem schillernden
Universum — meisterhaft versteht es Erdoðan, die Stimmen und Stimmungen der Stadt zu
präsentieren. Schon lange hat kein Roman mehr so eingehend das Versprechen von Literatur
eingelöst: Die Buchdeckel aufschlagen und in eine völlig andere Welt abtauchen. Hier herrscht
schon auf den ersten Seiten eine erdrückende tropische Schwüle, nach dem ersten Kapitel
schweift der Blick unruhig umher (krabbelt da womöglich eines der zahlreichen Ungeziefer aus
dem Buch?), der Blick in den eigenen, gut gefüllten Kühlschrank wird zum Fest — dieses Buch
lebt! Der Roman wirkt wie ein Drogentrip, man legt ihn beiseite und erlebt völliges
Gefühlschaos, Unbehagen, Erleichterung, kurz, alles, was Lesen so verlockend macht, völlige
Orientierungslosigkeit nach der Lektüre mit inbegriffen. Achtung, Suchtgefahr!

Aslý Erdoðan zählt unbestritten zu den spannendsten Stimmen der jungen türkischen Literatur.
Wie auch schon in ihrem Roman ”Der wundervolle Mandarin” (1996) sind autobiografische
Elemente in ”Die Stadt mit der roten Pelerine” verwoben: Die 1967 in Istanbul geborene Autorin
begann nämlich eine brillante Karriere als Exzellenz—Physikerin (Informatik—Studium und
Anstellung an der renommierten Istanbuler Bosporus—Universität sowie Mitarbeit am
Kernforschungszentrum CERN in Genf) und brach sie nach einem Aufenthalt in Rio de Janeiro
ab. Zu kalt und unmenschlich empfand sie den wissenschaftlichen Konkurrenzkampf. Gut so!
Ihre zweite Karriere als eine der besten Schriftstellerinnen der zeitgenössischen türkischen
Literatur ist ebenso vielversprechend. An den sverlag, in dessen fabelhafter ”Türkischen
Bibliothek” der Roman gut übersetzt erscheint, hätten wir nur eine Bitte: Mehr davon!

Autor: Karin E. Yeþilada

Titel Die Stadt mit der roten Pelerine

Buchautor Asli Erdogan

Land Türkei

Verlag sverlag, Zürich, März 2008; Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz—Acar
und Angelika Hoch

ISBN 978 3 293 100 107

Preis 19,90 Euro

19.3.2008
GERMANY
Angelika Hoch


 

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