Heldin, Legende — und ein rotes Tuch
Die Türkin Asli Erdogan polarisiert das Publikum in ihrer Heimat. Die dritte Autorin des Zürcher Stadtschreiberprogramms sagt, Zürich tue ihr gut: Gleich nach der Ankunft habe sie einen neuen Text begonnen.
Von Alexandra Kedves
Die dicke, rote Daunenjacke ist geliehen, und Asli Erdogan sieht in ihr noch dünner, noch zerbrechlicher aus. Blutarm und bettelarm sei sie, sagt sie, geschwächt nach Operationen, mitgenommen nach Kampagnen gegen sie — die Zeit in Zürich sei für sie gestundete Zeit, gestundete Geborgenheit wie die Jacke.
«Ich darf noch bis Ende Mai hier sein, dann zwei Monate in Frankreich — aber was danach passiert, weiss ich nicht. Ich habe Angst, in die Türkei zurückzukehren», sagt die Autorin, bei der nichts ihren Ruhm, ihre Preise verrät. Und sie steckt sich eine weitere Zigarette an, eine von vielen in diesem Gespräch, das bei der Klimakatastrophe beginnt, von den Krisen eines Schriftstellerlebens in der Türkei handelt und bis zu privaten Katastrophen reicht.
In der Türkei nämlich ist die 1967 in Istanbul geborene Autorin zwar eine Heldin, eine Legende — aber auch ein rotes Tuch. Man habe sie bedroht, verunglimpft, verfolgt. Man habe sie zur Unperson gemacht, ihr Liebesleben durch den Schmutz gezogen, Freunde und Kollegen verhaftet, der Kontakt zu ihrem Vater sei auf Eis gelegt, der zu ihrer Mutter sei zwiespältig.
Die Unzufriedenheit wächst
Asli Erdogan schreibt als Kolumnistin regelmässig über die Kurdenfrage, über Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen, über Folter und Frauendiskriminierung. 2008 unterschrieb sie eine Petition, die forderte, dass sich die Türkei bei den Armeniern entschuldigt («Dass Sarkozy jetzt dieses Gesetz verabschiedet hat, ist leider bloss Wahlstrategie»). Und das verzeihen die Nationalisten genauso wenig wie Erdogans kritische Artikel. Überhaupt habe die Unfreiheit zugenommen in der Türkei, stellt sie fest.
«Noch vor ein paar Jahren glaubte man in der Türkei an eine EU—Aufnahme und versuchte, sich an die Regeln zu halten. Mittlerweile haben sich diese Hoffnungen ziemlich zerschlagen, die EU hat ihren korrigierenden Einfluss verloren. Zurzeit sind in der Türkei 105 Journalisten in Haft! Damit sind wir, prozentual gesehen, die traurige Nummer 1 auf der Welt. Und man kann zehn Jahre ohne Verurteilung in Haft sitzen.» Zudem sei die Zahl der sogenannten Ehrenmorde in den vergangenen fünf Jahren um 1400 Prozent gestiegen. Für Asli Erdogan nimmt die Regierungspartei klar Kurs Richtung Islamisierung und Diktatur, der Geist im Land trübt sich ein.
Als Physikerin am Cern in Genf
Aber die linke Autorin will sich nicht einschüchtern lassen. Sie ist so widerspenstig wie ihre Locken und hat sich selbst dazu verpflichtet, sogar mit gebrochenen Flügeln «den Engel zu geben» und als Journalistin von den Opfern des Systems zu berichten. Hochbegabt, hatte sie als Physikerin am Cern in Genf gearbeitet — es sei «ein eiskaltes Karrieristen—Ghetto» —, ihren Master gemacht, ihr Doktorat in Rio de Janeiro begonnen.
Nach der Brasilien—Erfahrung warf sie die Doktorarbeit hin: Schon als Kind habe sie der vom Vater misshandelten Mutter beigestanden; und nachdem sie Mitte der 90er—Jahre als Physik—Doktorandin die Hölle von Rio erlebt hatte — wo sie ausgehungerte Greise sah, die ihr Erbrochenes assen, und Kinder, deren Augen so hart waren wie der Stahl, den sie ihren Opfern an die Kehle hielten —, verschrieb sie sich der Rettung. Literatur schreibt sie allerdings mit dem Rücken zur Welt. Dafür braucht sie Klausur statt Chaos. «Hier in Zürich ist mir ein kleines Wunder passiert: Schon am ersten Tag nach meiner Ankunft begann ich einen neuen Text. Normalerweise muss ich mich langsam akklimatisieren. Aber Zürich ist nicht meine Liebe, nicht mein wilder Tanzpartner wie Rio, sondern ein Kloster, in das ich mich für Exerzitien zurückziehe: Meine Zürcher Wohnung liegt zwischen zwei Hügeln, von meinem Fenster aus sehe ich einen kleinen Ausschnitt des Himmels. Das ist abgeschlossen, schallgedämpft, wie eine Gebärmutter; ganz anders als das offene, laute Istanbul. Ich bin eine klaustrophobische Schriftstellerin, und das ist perfekt für mich.»In dieser Gebärmutter wächst eine poetische Prosa heran, ein dunkles, metaphorisches Stück über die Lichter in der Nacht und über die Schwärze. Asli Erdogan zitiert Rainer Maria Rilkes «Duineser Elegien», um zu beschreiben, worum es ihr geht; und diese Referenz ist typisch für die Türkin, die sich ganz auf die westlich—europäische Tradition bezieht. Bereits «Die Stadt mit der roten Pelerine» (1998), Erdogans zweiter Roman, den sie morgen Donnerstag im Literaturhaus vorstellt, spielt mit westlichen Motiven wie dem Orpheus—Mythos und mit Verweisen auf westliche Komponisten und Autoren.
Das Grauen in den Texten
Die Antiheldin — Erdogans Ego — ist eine junge Türkin, die in den Todesstrudel von Rio gerät wie Thomas Manns Aschenbach in Venedig. Dass sie selbst wieder an einem hochpoetischen Rio—Roman arbeitet, also einen Roman im Roman verfasst, reflektiert Asli Erdogans eigene Nöte mit dem Schreiben. «Die Wirklichkeit entgleitet immer, sie lässt sich nicht fixieren. Was ich vermitteln kann — wenn es gelingt —, sind die inneren Kämpfe, das Ringen um die existenziellen Fragen, die Qual.»
Asli Erdogan versteht sich als «altmodische Modernistin», die eine bildertrunkene Sprache und ein hohes Abstraktionsniveau zusammenführt zum literarischen Totentanz. Kafka und Artaud sind für sie Gewährsleute ihres Schaffens. Das Politische gehöre in ihre Kolumnen. Das Grauen der Gegenwart — beispielsweise «die Wunde, eine türkische Frau zu sein» — wird in ihren Texten nicht plakativ freigelegt. Aber sie ist da, blutet, im Verborgenen, in den Text hinein. «Meine literarische Welt ist sehr privat, auch wenn ich in ‹Die Stadt mit der roten Pelerine› von der Barbarei draussen erzähle. Mein Thema ist der Tod, ist die Sterblichkeit. Vielleicht kann ich irgendwann, mit sechzig Jahren oder so, über das Leben schreiben. Aber im Moment bin ich dafür noch zu jung.»
«Ich bin eine klaustrophobische Schriftstellerin, Zürich ist perfekt für mich.»
Asli Erdogan
Morgen Donnerstag, 20 Uhr, ist Asli Erdogan im Literaturhaus Zürich zu hören. Alice Grünfelder stellt sie vor und führt das Gespräch. www.literaturhaus.ch
|