Die Kraft der Sprache
Eigentlich wollte Asli Erdogan gar nicht Schriftstellerin wer¬den. Die 1967 in Istanbul ge¬borene Autorin studierte bis 1993 Informatik und arbeite¬te an der Bosporus—Universi¬tät als wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Leben in Rio
Am Montagabend las sie im Huck—Beifang—Haus im An— schluss an die Ausstellungs—eröffnung „Die Türkische Bibliothek” in der Steinfur— ter Stadtbücherei aus ihrem Buch „Die Stadt mit der ro¬ten Pelerine”. Geschäftsfüh¬rerin Marie—Luise Biesterfeld begrüßte Asli Erdogan, Übersetzer Recai Hallac und ein interessiertes Publikum.
Mit großer Sensibilität re—zitierte Recai Hallac den Text auf Deutsch und über¬setzte Antworten auf die Fragen der Zuhörer. Die Le¬sung wurde im Rahmen der interkulturellen Wochen in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Steinfurt veran¬staltet, der seine Räumlich¬keiten zur Verfügung stellte.
Bunte Karriere
Die Autorin besitzt eine viel—schichtige Persönlichkeit. Sie verabschiedete sich nach einem Intermezzo in Rio de Janeiro (1994 bis 1995) von ihrer wissenschaftlichen Karriere, arbeitet als Pro¬grammiererin, Englischleh¬rerin und Tänzerin. Seither ist sie als Schriftstellerin ak¬tiv. Der Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine” spielt in Rio. Autobiografische Zü¬ge sind offensichtlich, doch die Erzählerin heißt nicht Asli, sondern Özgür. Und Özgür wiederum bewältigt ihren Alltag durchs Schrei¬ben. Sie erfindet die fiktive Doppelgängerin „Ö”. Über¬wältigend ist die gewaltige, mit Metaphern durchsetzte Sprache, mit der Erdogan ih¬re Erzählerin durch den Irr¬garten der Großstadt wan¬dern lässt. Geradezu bizarr muten einige Sequenzen an, surrealistisch, dunkel, le¬bensfeindlich. Die Stadt wird zum „launischen Laby¬rinth”, voller Sackgassen und geheimer Winkel. An jeder Ecke lauert der Tod. Die Hauptperson ist gefan¬gen in einer Welt der Ge¬walt. Erdogan hat auch ihre Erfahrungen in Rio de Janeiro gemacht.
„Hassliebe”
Doch auf die Frage, ob die Geschichten authentisch sind, weicht sie aus. „Ich werde über mich selbst schreiben, wenn ich mich selbst gefunden habe”, ant—wortet sie. Sie gesteht, das Buch in einer Art „Hasslie¬be” verfasst zu haben. Der Schriftstellerin ist alles zuge¬stoßen, was in dem Buch steht. „Aber erlebt habe nicht ich es, sondern Öz¬gür”, erklärt sie.
Rio ist eine Metapher für Tod, wird aber im Laufe des Romanes zu einer Metapher für Leben, heißt es. Das Ge¬fühl für Sprache ist das Wichtigste. Sie erzählt gar. nicht so viel, schwelgt aber in den Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks. Das Türkische scheint dafür besonders geeignet zu sein. ■ Rainer Nix
Asli Erdogans zweites auf Deutsch übersetztes Buch „Der wundersame Mandarin”, er—scheint in Kürze.
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