Türkische Mübigangereien
Der sverlag hat uns im Herbst 2007 in seiner erstaunlich anhaltend spannen¬den »Türkischen Bibliothek« zwei Bände aus verschiedenen Epochen geschenkt (muss man so sagen), die hart und traurig und furios prunkend unser altes Sprichwort »Müßiggang ist aller Laster Anfang« auch für die Istanbuler Lebenswelten beglaubigen. Halid Ziya Usakli— gil (1865—1945) verrankt in Verbotene Lieben, aus dem Jahre 1900, Neurosen, Lust und Lei—denschaftsgeschwitze beschäftigungsloser reicher Familien und ihrer Glieder, mit einer Schwäche fürs ausgedachte Pariser Leben, rechts und links des Bosporus. In der Verfeine¬rung ihrer Garderoben und Auftritte fiebern die Damen angemessenem Reichtum an der Seite begüterter älterer Herren entgegen, wo¬rauf im Erfolgsfall die edelsten Teile unter den kostbaren Stoffen ebenso fiebernd den nicht weniger fiebernden Neffen zustreben. Die ih¬rerseits so oft in den Puff gelaufen sind, dass sie sich die jüngsten Erwerbungen der Onkels zu Engeln zurechtfiebern. Und alles unter einem Dach! Das zu überstehen bedarf es listig tiefenverästelter Psychologien, die so fein hin— und hergesponnen werden, dass dem Leser gar nichts anderes bleibt, als immer wieder kräfti¬gende Getränke aus dem Kühlschrank zu or¬dern. Dazu wird dieses Gespinst samt aufbre¬chendem Elend und schießender Tränenbrun¬nen zusätzlich mit den schönsten Farben der Naturphänomene und Stoffqualitäten über— worfen, dass wir manchmal glauben möchten, wir stünden knietief im Kitsch, vergessend, dass wir seither ein Jahrhundert Entfremdung in Kalk gewandelt haben. Ehrlich: H. Z. Usakli— gils Verbotene Lieben, mit dem angeblich »die moderne türkische Literatur beginnt«, bleibt faszinierend. Und wenn auch der ganze Roman völlig von jeder ökonomischen oder gesellschafts¬politischen Verunreinigung bewahrt bleibt, wahrscheinlich, wie wir im Nachwort erfahren, weil »während der düsteren Ära des Sultans Abdülhamid II (reg. 1876—1909 )«sich die »türkischen Schriftsteller eine strenge Selbst¬zensur in politischen und sozialen Fragen auf¬erlegen mussten«, wird darin, wie im Labor¬versuch, gerade der Segen der Arbeit — der Re¬zensent meint hier freilich nicht die kapitalisti¬sche Vernichtungsarbeit — offenkundig. Und der Wert deutscher Spruchweisheiten.
Drei Generationen später (1959) lässt Yusuf Atilgan (1921—1989) seinen Flaneur »C.« durch Istanbul treiben. C. ist ein Existentialist aus der Schule unserer Jugend, so wir ältere 68er sind. Folglich durchzogen von Melancholie — der in moderner Schmucklosigkeit und geschickten Schnitten, gelegentlich von kurzen Hoffnungs— aufschäumungen bei jedoch schnell gekappten Wellenkronen, gefertigte Roman. C. hasst jegli¬che Vermassung, zwei sind ihm in der Regel
schon problematisch. Beim geringsten Auf¬kommen von nichtigem »small talk« geht er. Er ist ein Liebhaber des glatten unbehaarten, also enthaarten türkischen Frauenbeines. Zwei Härchen sind ihm in der Regel schon..., oder war zu viel Rot auf den Lippen, oder ein Fami¬lienanhang zu anhänglich? Trotzdem glaubt C. an die Erlösung durch die eine, die einzige für ihn bestimmte Frau, die irgendwo, gerade jetzt in seinem Istanbul herumläuft, deren Weg er nur zu kreuzen bräuchte: Feuerwerk, Epipha— nie! Also läuft auch C. Und da er auf einem or¬dentlichen Erbe läuft, kann er auch einkehren i und sich was gönnen und aus den Fenstern lauern. Immerhin arbeiten bei Atilgan die Mäd¬chen, oder sie studieren. Sie haben einen täg¬lichen Heimweg, so dass C. sich auf ihren Spu¬ren bewegen kann. Es bleiben gewisse Härten nicht aus. Mädchenherzen werden gebrochen nach erstem Entbergen nicht hinreichend ge—glätteter Extremitäten. Einmal trennten sich zwei verheißungsvolle Regenmäntel an einer Straßenkreuzung. C. entscheidet sich, dem hell¬braunen zu folgen. Ein kurzes, falsches Glück. Der hellblaue! Das wäre die Vollkommenheit gewesen. Aber C. wird es nicht mehr ergrün¬den können, obwohl seine Trägerin unerkannt — fast sind wir an Auf der anderen Seite erin¬nert —, immer wieder an ihm vorbeitreiben wird. Vielleicht ist es auch gut so. Denn andern¬falls wäre C.s Geschichte beendet, sein Lebens¬elixier vertrunken?
Beide Müßiggängereien verbindet durch die Generationen eine erstaunliche Abwesen¬heit der Gewalt von Traditionen und Religion, l wie sie uns heute vor allem von den Christen—hunden in der Abwehr unserer türkischen Freunde aufgespielt werden soll. Und wie sie im soziokriminellen Kleinklima hierzulande sich ausformt.
Vielmehr bestätigt uns der weitläufige und gereiste C. aufs Schönste: »Der Fleischer in London hat dieselbe Weltsicht wie ein Flei¬scher in Istanbuh, sagte er und streichelte die Haare, die auf seinem Schoß ausgebreitet la¬gen.«
|