Asli Erdogan schickt ihre Protagonistin nach Rio de Janeiro
Rio glüht in der Dezemberhitze, und inmitten der alles zersetzenden Sonnenglut verkommt eine junge Frau, der nach und nach alle Werte verloren gehen. Es ist eine verstörende Geschichte der Einsamkeit und Verlorenheit im Getriebe einer Metropole, dem sich die junge Türkin Özgür, die seit zwei Jahren in Rio lebt und sich mit schlecht — oder gar nicht — bezahltem Englischunterricht durchschlägt, nicht entziehen kann. Özgür heisst «frei», «unabhängig», bedeutet hier aber auch frei von allen Bindungen, losgelöst von der eigenen Geschichte bis hin zur Auflösung ihrer Identität. Die Distanz zu ihrer Heimat und ihrer Biografié wird an einem Telefongespräch deutlich, das sie in einem der ersten Kapitel mit ihrer Mutter in Istanbul führt. Es ist mehr als nur Entfremdung zwischen Mutter und Tochter, was dieses Telefonat bestimmt; beide leben in einer jeweils anderen Welt, wenn nicht in anderen Dimensionen, die einander längst nicht mehr berühren. Der Draht ist gekappt.
Im Rausch der Stadt
In ihrem Alleinsein verliert sich Özgür im Rausch der Stadt, und selbst wenn sie versucht, Beobachterin zu bleiben, lässt sie sich dennoch von dem Strudel aus Musik, Tanz und Delirium mitreissen. Sie schreibt einen Roman von der «Stadt mit der roten Pelerine», in dem ihr Ego, Ö., die Hauptrolle einer unsicheren «Gringa», einer Fremden, spielt, die versucht, sich in dem Gewirr von Phantasien und Phantastereien, von Masslosigkeit Und Elend zurechtzufinden. Özgür löst sich innerlich auf und klammert sich verzweifelt an ihre grüne Kladde, in der sie Ö.s Erlebnisse in Rio notiert: «sie kaute auf ihrem Stift, der zu einer Verlängerung ihres Körpers geworden war und ihr wie eine Prothese als dritte Hand diente, und hing ihren Gedanken nach». Alles, was ihr auffällt, notiert sie und lässt es Ö. erleben, dieSchiessereien in den Favelas, den Elendsvierteln, wenn neue Kokainlieferungen eingetroffen sind, das Betteln und Sterben auf den Strassen. Die Grenzen zwischen dem, was ihrer Romanfigur, und dem, was ihr selbst zustösst, sind so fliessend, dass sich kaum mehr zwischen dem Romangeschehen und dem Roman im Roman unterscheiden lässt, wie Karin Schweissgut in ihrem aufschlussreichen Nachwort erläutert.
Özgür beobachtet Zügellosigkeit und Verfall auf den Strassen, in Tanzlokalen und Restaurants, sie sucht Liebe und Anerkennung und wird doch nur als Objekt begehrt, das Männer einen Augenblick lang reizt. Sie wird stehen—, schlimmer noch, fallengelassen und verliert sich selbst, verfällt ihrer Angst ums Überleben.
Geschildert wird dieses Psychogramm einer Fremden in der wirbelnden Metropole Rio de Janeiro in einer poetischen, bilderreichen Sprache, um deretwillen allein schon die Lektüre lohnt, auch wenn vieles an dem Roman Leser und Leserinnen zutiefst verstört. Verstörend wirken die Wahrnehmungen der Erzählerin und die Beobachtungen an ihrem eigenen Ich, die klare Analyse des Verfalls der eigenen Person, der Verlust ihrer Geschichte und ihres Selbstbewusstseins. Es ist ein unaufhörlicher, nicht zu bremsender Abstieg, dem sie nicht mehr gegensteuern kann.
Sezierender Blick
Als Naturwissenschafterin, die Informatik und Physik studiert hat, ist die 1967 in Istanbul geborene Autorin, Asli Erdoan, an Präzision gewöhnt; und manches Mal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie behandle die seelischen Vorgänge ihrer Protagonistin mit den kalten, sezierenden Augen einer Analytikerin, die keine Gefühle kennt. Als Bewohnerin Istanbuls ist sie — wie Özgür, ihre Romanheldin — Weltbürgerin, eine junge Frau mit akademischem Hintergrund, die sich in kein traditionelles Moralkorsett mehr eingebunden fühlt. Die Aufnahme ihres Romans in die 20—bändige Türkische Bibliothek, die seit 2005 erscheint, ist besonders zu begrüssen, da hier — endlich einmal! — gezeigt wird, dass türkische Frauen mit der gleichen Selbstverständlichkeit studieren, lesen, schreiben und in alle vier Weltgegenden reisen wie andere Frauen auch.
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