Offener Brief an Aslý Erdoðan von PEN—Beirätin
Liebe Aslý,
in Gedanken bin ich jeden Tag bei dir – jeden Tag, seitdem du zu Unrecht in den „Friedhof der Lebenden“, in das Frauengefängnis von Bakirköy, weggeschlossen wurdest. Und ich muss zugeben: Ich weinte. Ich weinte über die Ungerechtigkeit. Über die Misshandlungen. Über die Grausamkeit. Über die Sinnlosigkeit und Absurdität.
PEN—Beirätin Nina George Foto: Urban Zintel
PEN—Beirätin Nina George Foto: Urban Zintel
Ich muss ebenfalls zugeben: Ich habe Angst. Ich habe Angst, weil die dunklen Zeiten früher zurückkommen, als ich je gefürchtet habe. Das, was zurzeit in der Türkei passiert – dem Land vieler meiner Freunde, die ich seit meiner Kindheit kenne und liebe –, erinnert mich in schmerzhafter Weise an das, was mir meine Großeltern über die beschämenden Jahre der Diktatur in Deutschland erzählten.
Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler, Lehrer und Lehrerinnen werden verfolgt und inhaftiert – nur weil sie den Werten der Demokratie folgen. Meinungsfreiheit und die Freiheit des Wortes sind in akuter Gefahr – aber nicht nur in der Türkei. Weltweit mehren sich die Tendenzen gegen die Freiheit des Wortes, gegen die Meinungsfreiheit, gegen Religionsfreiheit. Die Zerstörer dieser Werte und „Meinungsführer“ haben viele Namen: Vladimir Putin, Donald Trump, Recep Tayyip Erdoðan.
Aslý Erdoðan Foto: Gürcan Öztürk/—Verlag
Aslý Erdoðan Foto: Gürcan Öztürk/—Verlag
Liebe, ferne Aslý, sei dir sicher, dass abertausende Menschen in Deutschland und der ganzen Welt auf deiner Seite sind. Jeden Tag lesen wir über dich, schreiben über dich, reden über dich und deine Bücher. Du nanntest sie: „deine Kinder“ und trugst uns auf, sie nicht zu vergessen. Das werden wir niemals.
In Deutschland, Polen, Frankreich, Österreich starteten wir Kampagnen und Petitionen, um unsere Solidarität laut heraus zu rufen, für dich und für jeden Schriftsteller und jede Schriftstellerin, die zu Unrecht verhaftet und drangsaliert werden.
Wir fordern die europäischen Politiker auf, sich deutlich auszusprechen, dass Meinungsfreiheit zu den Grundwerten der Demokratie gehört, und dass sie in all ihren Entscheidungen, Handlungen und Haltungen klar Stellung für den unbedingten Schutz dieser Güter beziehen.
Doch nicht nur sie haben diese Aufgabe: Es kommt jetzt auf uns alle an. Die Autorinnen und Autoren. Die Europäer. Alle Menschen, die gemeinsam unsere Gegenwart bestimmen.
Autoren und Verleger – unsere Aufgabe ist klar! Lasst uns unsere Worte nehmen, einen langen Atem und lasst uns Lichtspuren aus Mut und Menschlichkeit legen, um gegenzuhalten und niemals angstvoll zu schweigen!
Wir sind keine Helden. Wir werden nie Helden sein. Aber wir sind jetzt an der Reihe. Mehr denn je.
Meine ferne Kollegin, meine Seelenschwester, vermisste Aslý: Ich sende meinen tiefsten Respekt zu dir. Aus den Mauern deiner Zelle, hinter den Gittern deines Gefängnisses hervor, gibst du uns allen, Autoren der Welt, die Kraft, aufzustehen und zu kämpfen: für Freiheit in jeder Sprache.
Eines Tages werden wir uns von Angesicht zu Angesicht treffen. Wir werden in die Sonne hinaus treten, wir werden reden, wir werden lachen und essen.
Dieser Tag wird kommen.
Machen wir also weiter. Hören wir niemals auf zu schreiben.
In Freundschaft und Verbundenheit,
Die englische Übersetzung des offenen Briefes können Sie auf der Internetseite des Internationalen PEN nachlesen.
http://www.pen—deutschland.de/de/2016/11/23/offener—brief—an—asli—erdogan—von—pen—beiraetin—nina—george/
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