„Wir leben jeden Tag im Schockzustand“
Die türkische Schriftstellerin Aslý Erdoðan erhält den Grazer Menschenrechtspreis, sie selbst musste ihre Teilnahme absagen. Ein Gespräch über Rationalität in der Justiz und über das große Schweigen der Bevölkerung.
Eigentlich sollte die türkische Schriftstellerin Aslý Erdoðan am heutigen Dienstag in Graz sein, dort den Menschenrechtspreis der Stadt entgegennehmen. Und tags darauf in Wien, eine Abendveranstaltung im Theater Werk X. Doch am Wochenende erlitt Erdoðan einen Unfall in Deutschland. Die Schriftstellerin musste bis auf Weiteres alle Termine absagen oder verschieben (Werk X), derzeit erholt sie sich, und wie es ihr ihre reflektierende Natur vorgibt, verarbeitet sie das Geschehene in einem weit größeren Rahmen. „Ich hatte einen Unfall und war im Schock“, sagt sie im Gespräch mit der „Presse“, „das ist eine normale Reaktion des Körpers, um den Schmerz nicht zu spüren. In diesem Schockzustand leben wir in der Türkei jeden Tag.“
Die ersten Tage in Gefangenschaft verbringen die Menschen auch im Schock, sagt sie nachdenklich. Eine Art Bewusstlosigkeit im Wachzustand, ein Zustand, den sie im vergangenen Jahr selbst erlebt hat, als sie plötzlich verhaftet und 132 Tage später genauso plötzlich wieder freigelassen wurde. Auf den Bildern, die die Schriftstellerin in den ersten Minuten ihrer neu gewonnenen Freiheit zeigten, stand eine dünne, blasse Frau mit Ringen unter den Augen, die nach Feuer für ihre Zigarette fragte. Die türkische Justiz wirft Erdoðan Terrorpropaganda vor, als „Belege“ dienen ihr die Texte der Autorin und ihre ehrenamtliche Tätigkeit für eine prokurdische Zeitung. Das Verfahren wird fortgesetzt, und obwohl sie die Erlaubnis bekam, ins Ausland reisen zu dürfen, behielten die Behörden bis vor Kurzem ihren Pass ein.
Ein Land ohne Justiz
Behörden und Justiz scheinen in der heutigen Türkei ihre eigene Logik zu haben, aber eine Logik ohne Struktur und Berechenbarkeit, das trifft Erdoðan auch als studierte Physikerin. Dem viel bemühten Vergleich des aktuellen Ausnahmezustandes zu den schwierigen Jahren nach dem Putsch 1980 kann sie durchaus etwas abgewinnen: „Wir hatten damals eine Junta, und auch sie ging gegen selbsterklärte Feinde vor. Wir haben alle gewusst, was uns erwartet, wenn wir das oder das machen. Diese Rationalität gibt es heute nicht. Welche Anschuldigung gerade passt, wird auch angewendet.“
Ein Land ohne Justiz,sagt sie, und das „ist die gefährlichste Lage, in die ein Land geraten kann“. Die Regierung zu kritisieren ist einerlei, das hat Erdoðan oft gemacht, und dafür ist ihr die internationale Aufmerksamkeit auch sicher. In ihren Schriften aber klagt die Autorin über das Schweigen der großen Mehrheit, über das Nichthinschauen, etwa in die Kurdenregion, auf die „Aschesäcke mit gestopften Menschenrümpfen“, wie sie in ihrem neuesten Buch „Nicht einmal das Schweigen gehört uns“ (Knaus—Verlag), schreibt: „Zerfetzte Seelen, durchschossene Wörter, Augen, die toter sind als die der Gestorbenen.“
Ihre Schriften und Essays handeln viel vom Tod und vom Wissen darum, dass er uns alle einholen wird. Sie schreibt über Verlust und verheilte Wunden, die uns aber nur verheilt erscheinen, denn in Wahrheit sind sie noch schmerzhaft tief und blutig. Über sich selbst streut Erdoðan in einen ihrer Texte ein: „Ich bin an meinem Lieblingsort, ich bin in meiner eigenen Nacht“, und dieses stille, dunkle Wirken charakterisiert ihre Arbeit wohl am eindringlichsten.
Das Wort Faschismus
So oft sich die Autorin auch unpolitisch nennt, so oft wird sie in die Politik hineingesogen wie in einen Taifun. Sie sei eine der ersten gewesen, erzählt sie, die die aktuelle türkische Regierung als faschistisch bezeichnet habe. „Ich habe das Wort zuerst in Anführungszeichen gesetzt. Im Sinne Ingeborg Bachmanns, wonach der Faschismus das Erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sei. Ich habe es als Faschismus im weitesten Sinn gemeint, nicht im direkten Vergleich zu Italien zum Beispiel.“ Mittlerweile sind die Anführungszeichen verschwunden, und Intellektuelle wie Erdoðan sind schwer damit beschäftigt, die türkische Gegenwart im historischen Kontext zu begreifen. Sind das die düstersten Tage, die die Republik jemals erlebt hat? Oder ist es eine Transitionsphase? In jedem Fall aber wird derzeit eine neue Grube in die Geschichte gegraben, so nennt es Erdoðan, und diese wird später zugeschüttet, ohne jemals aufgearbeitet zu werden. Denn so habe es bislang immer funktioniert: zuschütten, schweigen, vergessen. Der Alltag gewordene Schockzustand, damit man irgendwie durch das Leben kommt.
Derzeit arbeitet Erdoðan gemeinsam mit der in Wien wirkenden Regisseurin und Künstlerin Emel Heinreich an einer Textkollage, sie soll die Evolution ihrer Schriften im Laufe der Jahrzehnte nachzeichnen. Es ist ein Stück über die Wandlung der Aslý Erdoðan von einer aufstrebenden Physikerin zu einer vom Staat deklarierten Terroristin. Heinreich möchte das Stück demnächst auf die Bühne bringen.
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