Das Blutgewand der Gewalt
Die ¡unge Türkin Özgür ist von der Stadt am Zuckerhut völlig in den Bann geschlagen. Rio ist denn auch die eigentliche Heldin dieser Sinfonie einer Megacitv.
Rio de Janeiro — aus dem Blick¬winkel des Touristen ein tropisches Urlaubsparadies zwischen Copa— cabana und Karneval. In Ash Erdo— gans Roman «Die Stadt mit der ro¬ten Pelerine» zeigt die Stadt am Zu¬ckerhut ihr anderes Gesicht.
Das Paradies entpuppt sich für Özgür, die Heldin des Romans, ja— nusköpfig zugleich als eine Art
Hölle: ein infernalischer Glutofen mit penetrantem Fäkaliengestank, so heiss, dass özgür die Schuhsoh¬len aus dem Leim gehen. Als Stätte unbeschreiblichen Elends auch er¬lebt Özgür Rio, wo Menschen un¬beachtet auf der Strasse sterben, sowie als Schauplatz ausufernder Kriminalität. Die rote Pelerine im Titel ist das «Faser für Faser aus menschlichem Leid gewobene» Blutgewand der Gewalt, in das die Stadt gehüllt ist.
So ist dieser «schönste Ort der Welt» zugleich der gewalttätigste. Schon seit Tagen tragen zwei Ban¬den aus den Favelas nahe Santa Te¬resa, wo özgür sich eingemietet hat, unüberhörbar ihre bleihaltige Kon¬troverse aus. Für die junge Türkin, die der RomaneinenTaglangaufih— rem Gang durch die Stadt begleitet, sind derlei Schiessereien zur Hin¬tergrundmusik ihres Lebens ge¬worden. Anfangs noch hatte sie die häufigen Feuergefechte für Feuer¬werk, für einen Ausdruck über¬schäumender brasilianischer Le¬bensfreude gehalten...
Glücklicher Kunstgriff
In beinahe unheimlicher Weise wird özgür von der Stadt in den Bann geschlagen; wie ö., die Hel¬din des Romans, an dem Özgür schreibt, kommt sie nicht mehr von ihr los. Der Roman im Roman ist ein glücklicher Kunstgriff von Ash Er¬dogan, die 1967 in Istanbul geboren wurde und selber zwei Jahre lang in Rio gelebt hat. Indern sie dem Buch mit den kursiv gesetzten Ausschnit¬ten aus özgürs Roman eine zweite F.rzählebene einzieht und Textele¬mente wie Zeitungsmeldungen oder Reklameslogans einflicht, ent¬steht so etwas wie ein multiper¬spektivisches Porträt dieser Mega— city. Selten wurde eine Stadt so prall—sinnlich und sprachmächtig vergegenwärtigt wie hier. Das Buch ist eine polyfone Sinfonie der Grossstadt und Rio im üi.Vvwi sei¬ne wahre Heldin.
Byzantinische Intrigen
özgür sucht in Rio die Liebe — und Findet ausser flüchtigen Lieb¬schaften bloss ausschweifenden Sex. Unerfahren in den brasilia¬nisch —«byzantinischen (!) Intrigen des Verlangens», sinkt sie zur «Sex¬sklavin» herab. Doch, vergeblich bittet ihre Mutter in der fernen Türkei sie am Telefon, heimzu¬kehren: Schon der Tonfall existen— zieller Traurigkeit, der die Ge¬schichte von ö. — einer Spiegelfi¬gur özgürs— durchzieht, verrät, dass die ungeheure Erfahrung, die
Özgür in dieser Stadt macht, sie nicht mehr loslassen wird. Abge¬brannt und «chronisch einsam» wie die Heldin ihres Romans hält siu sich anders als diese dennoch über Wasser. Ihr Rettungsanker in diesem an äusserer Handlung ar¬men, an innerem (Er—)Leben da¬für um so reicheren und glänzend übersetzten Roman ist ihr Schreibstift selbst. Literatur, das erfahren wir hier wieder einmal, kann lebensrettend sein.
|