Die gefährlichste Stadt der Welt
In Asli Erdogans beängstigend gutem Roman ”Die Stadt mit der roten Pelerine”fühlt man sich plötzlich selbst in die Favelas von Rio de Janeiro versetzt
Zivilisationsflucht ist das Vorrecht der Privilegierten. Zwar werden auch Normalsterbliche schon einmal daran gedacht haben, ihr mieses kleines Leben hinter sich zu lassen. Aber bislang hat man selten gehört, dass Obdachlose die Favelas von Neukölln mit denen von Rio de Janeiro eingetauscht hätte.
Zivilisationsflucht, Aussteigen, eins von diesen Motiven muss auch die junge Özgür nach Rio de Janeiro verschlagen haben. Denn als Akademikerin hätte sie sich einen bequemeren Platz für andere, neue, Lebenserfahrungen aussuchen können. Die Protagonistin von Aslj ErdogSans Roman Die Stadt mit der Roten Pelerine sucht in der Metropole am Atlantik keine exotische Idylle, wie Paul Gauguin, als er sich 1891 in das ”unbeachtete Paradies” Tahiti einschiffte, wo, wie er schrieb, das ”Leben Singen und Lieben” ist. Zwar hat auch sie das Postkarten—Rio mit Zuckerhut unter blauem Himmel fasziniert. Aber Özgür hat sich, wie sie es in einem grünen Notizheft notiert, ”die gefährlichste Stadt der Welt ausgesucht, um sich ganz allein die dunklen Seiten der Menschheit anzusehen, sie aus sicherer Entfernung zu betrachten”.
Im Ausland liest man die türkische Literatur von Yasar Kemal bis Orhan Pamuk unter der verkürzten Perspektive, dass oder wie sie ”die Türkei erklärt”. Wie als ob sie dieser Erwartung aus dem Weg gehen wollte, hat ErdogSan ihre Romanheldin in eine Gegend versetzt, die entfernter von den Ufern des Bosporus nicht sein könnte: Ans andere Ende der Welt, in einen Schmelztiegel aus Drogen, Mord und Karneval.
In dem Wunsch Özgürs sich dieser radikalen Fremde auszusetzen, kann man unschwer den Wunsch ablesen, aus Rollenzuweisungen auszubrechen: Die an die türkische Literatur, aber auch die an die türkische Frau. Nicht umsonst nennt ErdogSan ihre Protagonistin Özgür, zu Deutsch: frei, unabhängig. Man darf diese Symbolik als autobiografisches Identitätszeichen ihrer Erschafferin verstehen. Denn die 1967 in Istanbul geborene ErdogSan, die Informatik und Physik studierte, lebte selbst zwei Jahre in Rio, nachdem sie ihren Job am Kernforschungszentrum Cern in Genf aufgegeben hatte.
ErdogSan ist nicht die erste Frau aus der langen Reihe türkischer Literatur, die die verdienstvolle Türkische Bibliothek des sverlages auf deutsch vorgelegt hat. Wie die in den letzten Jahren in Deutschland bekanntgewordene, 1971 geborene Elif Shafak, repräsentiert sie eine neue Generation von Autorinnen. Ihr ausgeprägter ästhetischer Eigensinn ist ein Beleg dafür, wie wenig das Klischee von einer vormodernen Kultur der Türkei zutrifft.
Aus ihren Identitätsproblemen entlässt Özgür der Wechsel auf die andere Seite des Äquators nicht. Es sei denn, man betrachtet die langsame Auflösung ihres Ichs als deren Lösung. Auch wenn sie portugiesisch lernt, sich den Menschen anpasst, die Signale und Zeichen der Stadt und der Favela, in der sie schließlich landet, zu deuten lernt, immer bleibt sie ”unsere Gringa”. So begrüßt eine stadtbekannte Prostituierte eines Abends özgür lauthals in einer Bar, in die sich flüchtet, um der Einsamkeit in ihrem schäbigen Zimmer zu entgehen. Schließlich ergibt sie sich den ungeschriebenen Gesetzen dieses Universums aus Wundbrand, Schüssen und Sex.
Vor den Augen des Lesers beginnt, ein Prozess der Entzivilisierung abzulaufen. Nach und nach lösen sich die Gerüste von özgürs labiler Existenz auf. Erst verliert sie ihren Job an der Uni. Dann schlägt sie sich mit Sprachunterricht durch. Als auch diese Einnahmequelle flöten geht, gibt sie ihre kulturellen Ansprüche preis. Sie besitzt nur noch absolut funktionale Sachen wie einen Dosenöffner oder ihre Umhängetasche. Was als sinnliche Grenzerfahrung, als Gegenleben zur naturwissenschaftlichen Rationalität geplant gewesen sein mag, endet im Verlust der Scham. Beim Lesen der Polizeimeldungen in der Zeitung entdeckt Özgür ”den erotischen Beigeschmack von Menschenblut”, beim Straßenkarneval wird sie von einem ”schwindelerregenden Sog der Sexualität erfasst”, gibt sich zehn Tage und Nächte jedem hin, ”ohne Identität, ohne Willen, ohne Würde”.
Özgür steigert sich in ”fürchterliche, abscheuliche Fantasien”, stellt sich vor, wie sie Busfahrern oder Verkäufern die Pistole an den Kopf setzt. Wenn sie mitleidlos konstatiert, dass sich ihre Maßstäbe auflösen und schließlich ”missbraucht” werden, fühlt man sich an William Goldings Herr der Fliegen erinnert, wo sich eine Schar britischer Schuljungen in einem Lager zu Primitiven zurückentwickelt. Verglichen mit Goldings Kulisse sind die Favelas von Rio zwar noch Zivilisation. Doch in diesen unverwüstlichen Labyrinthen der Verzweiflung gelten in jeder Hinsicht die Gesetze des Dschungels.
Denn Özgürs neues Lebensumfeld steht beständig auf der Kippe zwischen Natur und Kultur, zwischen Ordnung und Chaos. Denn alles, was die Menschen in Rio aus der Hand geben, wird binnen Tagen von wilden Gräsern und giftigen Schlingpflanzen überwuchert. In dieser Hölle schlägt schließlich alles über Özgürs Kopf zusammen. Wie eine Pelerine legt sich die Mischung aus Lust, Gewalt und Armut um den Hals der jungen Türkin, verleiht ihrer Existenz etwas Tierisches.
Elke Heidenreichs hat jüngst ErdogSan dafür gelobt, dass sie sich auf eine Geschichte mit negativem Ausgang eingelassen hat. Das gibt die Komplexität dieses bemerkenswerten Buches nicht annähernd wieder. Denn Die Stadt mit der roten Pelerine ist ein Vexierspiel, wie es postmoderner nicht sein könnte. Kurz vor ihrer Abreise findet Özgür ihr grünes Notizheft, in dem sie einen Roman über ihre fiktive Doppelgängerin ”Ö.” begonnen hat. Diesen Roman zu beenden ist das Einzige, was sie in der Stadt am Leben hält. Kapitel daraus wechseln sich mit Berichten eines Erzählers über özgürs reales Leben ab.
So, wie ErdogSan beide ineinander verschneidet, sind Realität und Fiktion nicht mehr auseinander zu halten. Und als in dem eigentlich früher geschriebenen Tagebuch Özgürs Tod protokolliert wird, auf den der Bericht des Erzählers zustrebt, fragt man sich nicht nur, wer hier wen beobachtet. Plötzlich schieben sich auch die verschiedenen Zeiten des Romans in— und voreinander. Den scheinbar unausweichlichen Passionsweg der doppelten özgür überlebt nur — die Literatur.
Der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sagt man gelegentlich nach, zur Selbstbespiegelung zu neigen. ErdogSans Roman ist ein Beispiel, wie man sie auf die Spitze treiben kann, ohne das Gefühl zu haben, mit einer blutleeren Schreibübung gelangweilt zu werden. Denn bei dieser Autorin bleibt alles, was sie zu Papier bringt, schmerzhaft sinnlich. Mitunter hat der Leser das Gefühl, dass ihm der Schweiß so vom Hals tropft wie özgür in der siedend heißen Stadt, er sich selbst erbrechen muss wie Özgür, die am Ende nur noch von Guaranälimonade und Kokain lebt oder ihm die Schüsse der Halbwüchsigen aus der Drogenmafia aus den Favelas um die Ohren pfeifen.
Die Stadt mit der roten Pelerine ist Vieles: Protokoll einer todbringenden Selbsterkundung, Beispiel einer gescheiterten Interkulturalität einer freiwilligen Migration, und er zeigt die Rückseite der Exotik so, dass man sie nie wieder vergisst. Aber vor allem ist es ein Roman über einen Kontrollverlust, der sich auf den Leser überträgt. Ein Buch wie ein Rausch, mit einer lyrischen Sprache, deren Facettenreichtum, Feinnervigkeit und Intensität ihresgleichen sucht. ErdogSan steigert sich in einen delirierenden Sound, der eine Ahnung von dem ganz anderen Leben aufscheinen lässt. Und der Angst davor.
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