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Die Türkin Asli Erdogan wagt sich nach Rio de Janeiro

Bei Rio de Janeiro denkt man weltweit an Copacabana, Karneval und Zuckerhut, Kriminalität, Favelas und Samba. Die türkische Autorin Asli Erdogan hat es nicht bei dem Blick von außen belassen. Sie versetzt sich in die junge Akademikerin Özgür, die sich fern ihrer Heimatstadt Istanbul das Elend von der Seele schreibt. Özgür ist einsam, aber der Stadt verfallen. Ihre Geschichte spielt in einer bitteren, harten Umgebung, wo ein Menschenleben zwischen zehn und 400 Dollar wert ist.
Özgür durchtanzt tropische Nächte voller Turbulenzen, Drogen und Sex. Sie fühlt sich wie auf dem sprichwörtlichen Vulkan. Auf sich selbst zurückgeworfen, bringt sie die Einsamkeit dann fast um, Eindrücke von Gewalt und Armut treiben sie an den Rand des Wahnsinns. Ihr Name bedeutet übersetzt „die Freie, die Unabhängige”.
Asli Erdogans Romanfiguren sind Obdachlose, Straßenkinder und Liebeswütige, Drogenhändler, Verrückte und Banditen aus dem Alltag Rios. Die Mittelschicht in den gepflegten Wohnvierteln kommt nicht vor. Die Autorin nutzt komplexe Erzählstrukturen, wenn sie von Özgür berichtet, die die Geschichte der Ö. verfasst, und verknüpft so einen authentischen Stoff, Fiktion und journalistische Passagen mit Elementen der Reiseliteratur. Das ist zwar nicht einfach zu lesen, aber dank der poetischen Sprache ein ganz besonderes Erlebnis.
Özgür möchte „die Stadt wie einen Schmetterling in ihren hohlen Händen einfangen und in Worte bannen, ohne sie zu töten”. Das gelingt Asli Erdogan ganz wunderbar. Ihr Rio de Janeiro voll prächtiger Bilder verschweigt die Brutalität und das Elend nicht, doch ihre intensiven und kraftvollen Sprachbilder ziehen den Leser wie ein Sog in den Abgrund. Man folgt dem Strudel der Erzählung gebannt und kann nicht mehr aufhören zu lesen.
Asli Erdogan verbrachte zwei Jahre in Rio und lehrte als Physikerin an der Katholischen Universität, bevor sie sich ähnlich wie ihre Heldin Özgür als Englischlehrerin und Tänzerin durchschlug. Ihr unkonventionelles Leben — sie studierte Physik und Informatik, lebte mehrere Jahre im Ausland und arbeitete am Kernforschungszentrum Cern in Genf, ehe sie sich ganz dem Schreiben zuwandte — mag dazu beigetragen haben, dass man vergeblich nach „dem türkischen Frauenbild”, sei es kemalistisch, sozialistisch oder islamisch sucht. Hier begibt sich eine moderne, heimatlose, verlorene Weltbürgerin auf die Suche nach sich selbst.

17.7.2008
ALMANYA
Von Petra Klein


 

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