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„Die Stadt mit der roten Pelerine“

Sex, Tanz und Tod oder Özgür in Rio
Asli Erdogans Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“


Rio de Janeiro, Stadt der weißen Strände, Felsen, die das Land zerschneiden, Stadt des
Dschungels, des Karnevals. Der zum Teil autobiographische Roman „Die Stadt mit der roten
Pelerine“ von Asli Erdogan ist eine Reise in das Unbekannte, ein Versuch, es zu erfassen und
zu vermitteln. Dabei lernt der Leser jedoch ein Rio kennen, welches sich hinter den
Postkartenmotiven versteckt hält. Eine Stadt der Oberflächlichkeit, der Gewalt, des Chaos und
der Maskerade, fern der touristischen Reiseführer.

Die junge türkischstämmige Wissenschaftlerin Özgür lebt seit zwei Jahren in Rio. Der Leser
begleitet sie nun an einem Sonntag im Dezember durch ihr Leben und die Stadt. Dabei lernt
man Özgürs Lebenswandel als Abstieg kennen, so dass sie nach zwei Jahren ohne Arbeit und
Freunde ein sozial gänzlich zurückgezogenes Leben führt. Sie kennt die Stadt inzwischen recht
gut, weiß über die brasilianische Kultur Bescheid. Sie durchschaut die Lebensfreude der
Einheimischen als Maske, hinter der sich ein immerwährender Existenzkampf und absolute
Sinnlosigkeit verbergen. Die Grausamkeit in den Favelas, der Tod, der in Rio sein Paradies
gefunden zu haben scheint und die geballte Sexualität reizen Özgür jedoch ungemein.
Abgeschreckt und angezogen zugleich begibt sie sich in einen Capoéira, einen Kampftanz mit
der Stadt um Leben und Tod.

Um der Brutalität, der gefühlsleeren Körperlichkeit um sie herum etwas entgegenzusetzen,
schreibt Özgür den Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“. Dieser Roman wird in die
Handlung eingeflochten. Mal liest Özgür einige Passagen daraus, mal schreibt sie ihn weiter.
Als faszinierte, angewiderte, verängstigte und kampflustige Beobachterin erlebt man die
Protagonistin, die den Leser durch einen Tag der Stadt Rio de Janeiro führt. Je tiefer sie dabei
steigt, desto mehr verliert sich die introvertierte, kühle junge Frau, welche ihren eigenen
Körper kaum in seiner Weiblichkeit begreift. In dem chaotischen Leben der Extreme von Sex,
Tanz und Tod löst sich Özgürs Persönlichkeit zunehmend auf, ihre europäischen Prinzipien
„wurden eines nach dem anderen angewandt, dann gnadenlos über den Haufen geworfen und
schließlich missbraucht“. Sie fühlt sich von der Stadt Rio wie eine Marionette beherrscht.
Dabei entfernt sich Özgür so weit von ihrer Heimat, dass sie sich in ihrer Muttersprache kaum
noch zu Hause fühlt, die gemäßigten Klimazonen und das gemäßigte Leben dort als langweilig
und zu kalt serviert empfindet.

„Die Stadt mit der roten Pelerine“ ist ein Roman über das Schreiben, ein Schreiben, das
versucht, der Realität möglichst nah zu kommen und ihr doch ausweicht, sie zuweilen sogar
vorwegnimmt. Dabei fließen fast schreibtheoretische Überlegungen in den Text ein. Doch noch
viele weitere Bilder werden von der Autorin heraufbeschworen. Religionen und Tanz,
rauschhaftes Glück und vor Hunger leere Augen, der geringe Wert eines menschlichen Körpers
und der hohe Preis für die Einsamkeit treffen unaufhörlich aufeinander, ohne dass sich ein
Sinn erkennen ließe. Die gewaltigen Themen werden wieder negiert, so dass der Leser selbst
vor jenem Nichts steht, welches Özgür hinter jeder Maske spürt. Dabei findet Erdogan eine
Sprache, die ebenso hin— und hergeworfen ist wie das Leben. Mal äußerst poetisch, mal
sachlich kühl, aber immer mit sehr treffenden Bildern schafft sie es, die Leser aus den
gemäßigten Breiten mitzunehmen in die Höllen Rios.

Erdogan reißt den Menschen mit ihrem Buch die Masken herunter. Doch so wie Özgür muss
schließlich auch der Leser die Leere hinter der Maske selbst füllen. Der Roman ist eine Reise
an die Abgründe der Menschheit, bei der selbst die tiefsten Höllenschlunde den Lebenstrieb
bestärken, während sie den Tod zur Schau stellen. Wenn Özgür aus Shakespeares MacBeth
zitierend erkennt: „Das Leben … ein Märchen ist’s, erzählt von einem Dummkopf, voller Klang
und Wut, das nichts, gar nichts bedeutet“, spiegelt sich der äußerst berührende Roman in
diesen Worten wieder.

30.10.2008
ALMANYA
Die Berliner Literaturkritik/Von Wiebke Volkmann


 

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