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Asli Erdogan

Der einsame junge Held in Yusuf Atilgans Istanbul—Roman aus dem Jahr 1959 ent¬spricht schon ganz dem Typus des blasierten Grossstadtbewohners, der sich inmitten der Reizüberflu¬tung auf das Seine konzentriert. Seinem entsprechend ist das die Traumfrau, die Richtige — ihn jedoch stört etwas Falsches, eine merkwürdige Angst vor nackten Frauenschenkeln. Ein Trauma aus der Kindheit: Damals hatte sich der Vater ungezügelt mit den Dienstmädchen in der Küche, heimlich aber auch mit der von C. innig geliebten Tante vergnügt. Die Urszene blieb natürlich nicht aus, der Kleine ertappt die beiden in flagranti und wird die Schatten des symbolischen Vatermordes nicht wieder los. Er wird zur Fall— geschichte einer Neurose — ödi— pus in Istanbul.

Bohème auf Türkisch
Der Vater ist tot, das Erbe reich¬lich, so kann sich C. als überzeug¬ter Müssiggänger durch ein Istan¬bul der Projektionen und Ersatz¬befriedigungen schlagen. Istan¬bul ist aber auch der konkrete Raum einer Moderne, in dem seine Realitätstauglichkeit geprüft wird. Die junge Bohème reflektiert aktuelle westliche Prägungen, man spielt Shakespeare und liest André Gide, Dylan Thomas, Paul Éluard oder Truman Capote. Für C. bleibt diese Kultur dennoch eine Utopie — real sind einstweilen Alkohol, Zigarettenrauch und der Liebesmangel.
Ich ”bin ein Müssiggänger» sagt er wiederholt selbstbewusst, «das ist die schwerste Arbeit, die es überhaupt gibt». Sie besteht allerdings nicht in der Strukturie¬rung eines müssigen Alltags, son¬dern in der Abwehr der Neurosen, und diese versperren dem Dandy am Bosporus den Zugang zur Welt ebenso wie den zur Frau. Mit dem
kanischen Partners und war da¬mit schon auf die Candombl6— Ebene der brasilianischen gut gebauten und fesselnden Ro¬man hat Yusuf Atilgan (1921— 1989) schon früh die psychoanaly¬tische Interpretationskultur im¬portiert und damit in der Türkei einiges Befremden erzeugt.

Eine Türkin in Rio
Die Schriftstellerin Asli Er— dogan, geboren 1967 in Istanbul, schafft das Befremden’schon mit ihrer persönlichen Biographie als studierte Physikerin, kritische Ko¬lumnistin und mit ihrem nicht unbedingt konformen Liebesle¬ben. Bevor sie nach Rio de Janeiro ging, um an einer Promotion als Physikerin zu arbeiten, erlebte sie in Istanbul Voodoo—Traditionen beim Vater ihres damaligen afriter der Dezemberhitze. Finanziell kommt sie herunter wie nie zuvor und hat sogar hin und wieder richüg Hunger, aber: «Schliesslich hatte sie es geschafft, eine echte Vagabundin zu werden. Sie war verloren gegangen in dieser süd¬amerikanischen Stadt, die für Morde an Strassenkindern und für ihren Karneval berühmt ist.»
Der Alltag in f der gewalt¬getränkten Stadt wird in einer intensiv gesteigerten, dramati¬schen Verdichtung beschrieben und inszeniert, özgur kommt nicht gut an. Die seit frühester Jugend liebeserfahrenen Brasilia¬nerinnen verhöhnen die sprach¬lich unbeholfene und körperlich «etwas steife Turcar. Dem dionyKultur vorbereitet. Als sie aus Rio zurück¬kam, brachte sie einen brasiliani¬schen Ehemann mit, beendete die naturwissenschaftliche Laufbahn und wurde Autorin.
Auch in Erdogans Romantragö— die über die’Einsamkeit in der Grossstadt, die Fremde und die existenzielle Suche nach dem An¬deren geht es um die Emanzipa— • tion des Subjekts. Die junge özgür ’ — der Name bedeutet die Freie, i lässt sich in Rio de Janeironieder, :1 lebt von Sprachunterricht, haust in einem Appartement im Haus des unangenehmen Professors Botherö und leidet erbärmlich un¬
sischen Rausch der Megacity setzt Erdogans Roman einen bewuss— ten Formwillen entgegen, es feh¬len auch nicht die inneren Bezüge zur Tragödie, und immer wird das: Leben gefeiert: «Die Triebkraft des Lebens, älter als die Geschichte und als das Wort.»


13.10.2008
ALMANYA
Martin Zahriger


 

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